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Stellt ein polnisches Gericht an ein Staatsarchiv das Gesuch um
Erlauterung einer unklaren Rechtsfrage, so ist in der Regel auch die
archivalische Tradition der in Betracht kommenden urkundlichen
Beweismittel unklar. Dann bleibt auch nichts anderes übrig, als auf
dem Wege von Kombinationen aufklarende Beweisen und Indizien
zu finden, die dem Gericht eine schliissige Urteilsfallung ermöglichen.
Es handelt sich in der jungen polnischen Verwaltung darum, alle
Wünsche nach Möglichkeit zu erfiillen. Die fast grenzenlosen Bereiche
der Betatigung im Leben des Staates und der Gesellschaft, der Wirt-
schaft und der sozialen Verhaltnisse zeitigen eine Menge von unvor-
gesehenen Fragen, die ohne archivalische Erlauterung nicht zu lösen
sind. Ich will aus der polnischen Archivpraxis als interessantes Bei-
spiel anführen, dass allein die Regelung der zur Russenzeit absichtlich
verwirrten bauerlichen Besitzverhaltnisse nach dem Neuerstehen
Polens eine ungeheuere Fülle von Gesuchen an ein Warschauer
Archiv hervorgerufen haben. Die Archivbeamten entsprachen mit
unverdrossener Ausdauer den von der Bauernschaft gestellten An
fragen. Die hierbei von dem Archiv den Behörden und den bauer
lichen Besitzern erteilten Auskiinfte ermöglichten, auf einem Gebiet,
auf dem bisher Zank und Hader geherrscht haben, sozialen Frieden
zu stiften. Wohl ist dabei eine sehr starke Belastung der archiva
lischen Arbeitskrafte an den Tag getreten. Aber die von dem Archiv
nicht versagen der polnischen Archivdelegation in Russland für die
sachkundige und hingebende Tatigkeit bei der Erledigung ihrer schwie-
rigen Aufgabe die aufrichtige Anerkennung auszusprechen.
7. Benutzung der Archive. Die polnische Archivverwaitung
war vom Anfang an bemiiht, die Benutzung der Archive nach Kraften
zu fordern. Eigene Erlebnisse des polnischen Archivchefs gaben den
Anlass, die Benutzungszeit möglichst zu erweitern. Es geschah dies
namentlich mit Rücksicht auf die ausserhalb des Archivortes woh-
nenden Oelehrten. Die historischen Forscher gehören doch einer
durch materielle Glücksgüter minder begünstigten Berufsgruppe an.
So ist es in Polen und vielleicht auch in anderen Landern. Wenn ein
Forscher eine kleine Summe zusammengespart hat, um in der Haupt-
stadt des Reiches eine Zeit lang Archivstudien zu unternehmen, so
wird er, selbst bei angestrengtester Tatigkeit, das Bestreben haben,
auch noch Liber die Zeit der amtlichen Bureaustunden hinaus seine
Aktenforschungen fortzusetzen. Als ich zu Ende des vorigeri j'ahr-
hunderts in einem Moskauer Archiv arbeitete, da erlebte ich es
wiederholt, dass ich bei taglich vierstündiger Bureauzeit nur zwölf
Stunden in der Woche das Archiv benutzen konnte. Denn am Son-
nabend, als an dem ortsüblichen Wasch- en Badetage musste das
Archiv ohnehin geschlossen bleiben. Dann kamen noch staatliche
und kirchliche Festtage hinzu, an welchen die Archivpforten gleich-
falls nicht geöffnet wurden. Im Endergebnis war das Archiv in
manchen Wochen nur an drei Tagen zuganglich. So blieb der kost-
spielige Aufenthalt in der altrussischen Hauptstadt in keinem Ver-
haltnis zu der allzu knapp bemessener Arbeitszeit.
Ein solches Idyllenleben der Archivbeambten bestand jedoch
nicht in der polnischen Hauptstadt, auch nicht in der Zeit der russi-
schen Herrschaft. Allerdings sind die Dienststunden der polnischen
Archivare in der Gegenwart recht stark bemessen. Aber selbst diese
erweiterte Arbeitszeit könnte manchen, in seinen Geltmitteln be.
schrankten, von ausserhalb zugereisten Forscher nicht genügen. Von
derartigen Erwagungen ausgehend schuf die polnische Archivver
waitung eine zentrale Arbeitsstatte in der Hauptstadt. Auf diese
Weise wurde es den zugereisten Gelehrten ermöglicht, Archivalien
von den frühen Morgenstunden an bis in die spaten Abendstunden
hinein zu benutzen. Natiirlich mussen die in Betracht kommenden
Aktenstücke von dem Benutzer vorher bei den einzelnen Archiven
bestellt werden, um rechtzeitig an jene zentrale Arbeitsstatte zu
gelangen. Eine solche Einrichtung ist allerdings nur an solchen
Archivorten durchführbar, die iiber ein zahlreicheres Archivpersonal
verfügen. Finanzielle Mehrausgaben sind aus der Errichtung der
Arbeitszentrale dem Staate nicht erwachsen. Diese erweiterte Arbeits-
gelegenheit wurde auch von den am Orte wohnhaften Gelehrten
lebhaft begrüsst, deren Berufsstunden oft mit den üblichen Bureau
stunden der Archive zusammenfielen.
Verlangten Behörden, Gerichte, Körperschaften oder Privatper-
sonen Auskiinfte, so entsprach man deren Wünschen gern. Wohl
mag sich haufig bei Uelegenheit von allerhand weniger interessanten,
oder inhaltlich unerheblichen Privatbenutzungen, auch bei sonst eifrigen
Beambten, die Auffassung regen, dass der Beambte nicht die
Verpflichtung und auch nicht das Recht habe, die vom Staate remu
nerate Arbeitszeit in zu umfangreicher Weise in den Dienst privater
Anfragen zu stellen. Gegenüber Fallen von Misbrauch, die selten
vorkommen, sind Beschrankungen angezeigt. Aber an Entgegenkommen
lassen es die polnischen Archivare nicht mangeln. In meiner Dienstzeit
am Geheimen Staatsarchiv in Berlin, pflegten die leitenden Beamten
ihre manchmal zu kritisch veranlagten jüngeren Kollegen zu unter-
weisen, dass sie grundsatzlich auch der Erledigung der ihnen uner-
heblich erscheinenden Privatanfragen jede Sorgfalt zuzuwenden haben.
Die dabei unternommene Mühe ging tatsachlich nicht verloren und
sie bereicherte den Schatz an archivalischen Erfahrungen.