230 231 Stellt ein polnisches Gericht an ein Staatsarchiv das Gesuch um Erlauterung einer unklaren Rechtsfrage, so ist in der Regel auch die archivalische Tradition der in Betracht kommenden urkundlichen Beweismittel unklar. Dann bleibt auch nichts anderes übrig, als auf dem Wege von Kombinationen aufklarende Beweisen und Indizien zu finden, die dem Gericht eine schliissige Urteilsfallung ermöglichen. Es handelt sich in der jungen polnischen Verwaltung darum, alle Wünsche nach Möglichkeit zu erfiillen. Die fast grenzenlosen Bereiche der Betatigung im Leben des Staates und der Gesellschaft, der Wirt- schaft und der sozialen Verhaltnisse zeitigen eine Menge von unvor- gesehenen Fragen, die ohne archivalische Erlauterung nicht zu lösen sind. Ich will aus der polnischen Archivpraxis als interessantes Bei- spiel anführen, dass allein die Regelung der zur Russenzeit absichtlich verwirrten bauerlichen Besitzverhaltnisse nach dem Neuerstehen Polens eine ungeheuere Fülle von Gesuchen an ein Warschauer Archiv hervorgerufen haben. Die Archivbeamten entsprachen mit unverdrossener Ausdauer den von der Bauernschaft gestellten An fragen. Die hierbei von dem Archiv den Behörden und den bauer lichen Besitzern erteilten Auskiinfte ermöglichten, auf einem Gebiet, auf dem bisher Zank und Hader geherrscht haben, sozialen Frieden zu stiften. Wohl ist dabei eine sehr starke Belastung der archiva lischen Arbeitskrafte an den Tag getreten. Aber die von dem Archiv nicht versagen der polnischen Archivdelegation in Russland für die sachkundige und hingebende Tatigkeit bei der Erledigung ihrer schwie- rigen Aufgabe die aufrichtige Anerkennung auszusprechen. 7. Benutzung der Archive. Die polnische Archivverwaitung war vom Anfang an bemiiht, die Benutzung der Archive nach Kraften zu fordern. Eigene Erlebnisse des polnischen Archivchefs gaben den Anlass, die Benutzungszeit möglichst zu erweitern. Es geschah dies namentlich mit Rücksicht auf die ausserhalb des Archivortes woh- nenden Oelehrten. Die historischen Forscher gehören doch einer durch materielle Glücksgüter minder begünstigten Berufsgruppe an. So ist es in Polen und vielleicht auch in anderen Landern. Wenn ein Forscher eine kleine Summe zusammengespart hat, um in der Haupt- stadt des Reiches eine Zeit lang Archivstudien zu unternehmen, so wird er, selbst bei angestrengtester Tatigkeit, das Bestreben haben, auch noch Liber die Zeit der amtlichen Bureaustunden hinaus seine Aktenforschungen fortzusetzen. Als ich zu Ende des vorigeri j'ahr- hunderts in einem Moskauer Archiv arbeitete, da erlebte ich es wiederholt, dass ich bei taglich vierstündiger Bureauzeit nur zwölf Stunden in der Woche das Archiv benutzen konnte. Denn am Son- nabend, als an dem ortsüblichen Wasch- en Badetage musste das Archiv ohnehin geschlossen bleiben. Dann kamen noch staatliche und kirchliche Festtage hinzu, an welchen die Archivpforten gleich- falls nicht geöffnet wurden. Im Endergebnis war das Archiv in manchen Wochen nur an drei Tagen zuganglich. So blieb der kost- spielige Aufenthalt in der altrussischen Hauptstadt in keinem Ver- haltnis zu der allzu knapp bemessener Arbeitszeit. Ein solches Idyllenleben der Archivbeambten bestand jedoch nicht in der polnischen Hauptstadt, auch nicht in der Zeit der russi- schen Herrschaft. Allerdings sind die Dienststunden der polnischen Archivare in der Gegenwart recht stark bemessen. Aber selbst diese erweiterte Arbeitszeit könnte manchen, in seinen Geltmitteln be. schrankten, von ausserhalb zugereisten Forscher nicht genügen. Von derartigen Erwagungen ausgehend schuf die polnische Archivver waitung eine zentrale Arbeitsstatte in der Hauptstadt. Auf diese Weise wurde es den zugereisten Gelehrten ermöglicht, Archivalien von den frühen Morgenstunden an bis in die spaten Abendstunden hinein zu benutzen. Natiirlich mussen die in Betracht kommenden Aktenstücke von dem Benutzer vorher bei den einzelnen Archiven bestellt werden, um rechtzeitig an jene zentrale Arbeitsstatte zu gelangen. Eine solche Einrichtung ist allerdings nur an solchen Archivorten durchführbar, die iiber ein zahlreicheres Archivpersonal verfügen. Finanzielle Mehrausgaben sind aus der Errichtung der Arbeitszentrale dem Staate nicht erwachsen. Diese erweiterte Arbeits- gelegenheit wurde auch von den am Orte wohnhaften Gelehrten lebhaft begrüsst, deren Berufsstunden oft mit den üblichen Bureau stunden der Archive zusammenfielen. Verlangten Behörden, Gerichte, Körperschaften oder Privatper- sonen Auskiinfte, so entsprach man deren Wünschen gern. Wohl mag sich haufig bei Uelegenheit von allerhand weniger interessanten, oder inhaltlich unerheblichen Privatbenutzungen, auch bei sonst eifrigen Beambten, die Auffassung regen, dass der Beambte nicht die Verpflichtung und auch nicht das Recht habe, die vom Staate remu nerate Arbeitszeit in zu umfangreicher Weise in den Dienst privater Anfragen zu stellen. Gegenüber Fallen von Misbrauch, die selten vorkommen, sind Beschrankungen angezeigt. Aber an Entgegenkommen lassen es die polnischen Archivare nicht mangeln. In meiner Dienstzeit am Geheimen Staatsarchiv in Berlin, pflegten die leitenden Beamten ihre manchmal zu kritisch veranlagten jüngeren Kollegen zu unter- weisen, dass sie grundsatzlich auch der Erledigung der ihnen uner- heblich erscheinenden Privatanfragen jede Sorgfalt zuzuwenden haben. Die dabei unternommene Mühe ging tatsachlich nicht verloren und sie bereicherte den Schatz an archivalischen Erfahrungen.

Periodiekviewer Koninklijke Vereniging van Archivarissen

Nederlandsch Archievenblad | 1933 | | pagina 24