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zeichnen bemerke ich, dass vordem in Russland jede Behörde und
jedes Amt über ein besonderes Archiv fur sich verfiigte. Man
berechnete damals, dass die Zahl der staatlichen Archive des Zaren-
reiches sich auf über 30,000 belief. In den russischen Verordnungs-
blattern aus der Zarenzeit fand ich zahllose Ernennungsdekrete für
Archivkommissionen, die in erster und letzter Instanz über die Kas-
sation der behördlichen Kanzleiarchive entschieden. Die Sowietre-
gierung liess jedoch unter Berücksichtigung der Fortschritte der
Archivwissenschaft einen vollstandigen Wandel hierin eintreten. In
Polen wurden die Beziehungen der wissenschaftlichen Archivver-
waltung zu den Behördenregistraturen erheblich gefördert, indem die
polnische Archivverwaltung eine Verordnung von 28. Oktober 1920
bei dem Ministerrat durchsetzte, durch welche jede Kassation von
Akten der Behörderegistraturen von der Zustimmung der „Abteilung
für Staatsarchive" abhangig gemacht wurde. In der Einsicht, dass ein
geordneter Aktenlauf bei den Kanzleien überhaupt die Vorbedingung
ist für eine angemessenene Aufstellung der spater an die Staats
archive abzuliefernden Akten, widmete die Archivverwaltung der
Frage der Einrichtung der Registraturen unausgesetzt ihre volle
Aufmerksamkeit. Alle diese Bemühungen vollziehen sich im Bereich
der Richtlinien des Dekrets von 1919.
3. Staat und Archivwesen. Ein erfahrener Fachmann des
Auslandes tat gelegentlich die beachtenswerte Ausserung, dass das
jahrhundertelange staatslose Dasein der polnischen Volksgemeinschaft
eine nachteilige Wirkung auf den Stand der archivkundlichen Kennt-
nisse im Lande ausgeübt haben muss, und zwar wie er betonte
ohne jede Schuld der Polen. Die angeführte Wahrnehmung erscheint
objektiv und treffend. Eine richtige Einstellung zu dem organischen
Verhaltnis von Staat und Archiv ist sicherlich nur dann möglich, wenn
beide Faktoreneigener Staat und eigenes Archivwesen zugleich
nebeneinander bestehen. Aus dieser Tatsache erwuchs für die polni
schen Fachmanner die besondere Aufgabe, alle durch die Unbill der
politischen Umwalzungen hervorgerufenen Lücken in systematischer
Facharbeit zu beseitigen. Die polnische Archivpolitik widmet diesem
Punkt ihre Beachtung und sie kann hierbei an die Traditionen des
alten polnischen Staates anknüpfen. Der oberste Beamte in dem alten
Polen, der Kronkanzler, betreute das archivum generale Regni. Er
vereinigte in einer Person etwa die Ressorts des Ausseren, der justiz
und des Inneren. In den zu verschiedenen Zeiten berufenen Archiv-
kommissionen betatigten sich praktisch die ersten Beamten und
Senatoren des Reiches. Es sei nur daran erinnert, dass der hochge-
bildete Kanzier Jan Zamoyski in seinen jüngeren Jahren im polnischen
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Reichsarchiv lange Zeit fachmannisch arbeitete und ein mehrbandiges
Repertorium des Archivs hinterliess. In den Beschlüssen der parlamen-
tarischen Körperschaften, des Reichstages und der Provinziallandtage
sind zahllose Geldanweisungen der Stande verzeichnet, urn die
Kosten von Ordnungsarbeiten in den Archiven und verbesserter oder
neuer baulicher Einrichtungen zu bestreitea. Dieses rege Interesse
für Archivangelegenheiten in Polen ist ebenfalls dem franzosischen
Spezialforscher Louis Jacob bei seinen Studiën entgegengetreten, der
hierzu bemerkt: „La nation polonaise était la plus soucieuse de
conserver ses documents publics" (La clause de livraison des archives
pub/iques. 1915. S. 50).
4. Archive und Bibliotheken. Eine normale Fortentwi-
ckelung der Archive ist nur dann gesichert, wenn sie sich keine
Ubergriffe in andere Verwaltungen erlauben und Eingriffe anderer
Verwaltungen vom eigenen Bereiche fernhalten. Mit Rücksicht auf die
historisch überkommenen Zustande in Polen handelt es sich insbesondere
darum, eine sachliche Trennung zwischen den Bestanden und Funk-
tionen der Archive auf der einen und der Bibliotheken auf der anderen
seite eintreten zu lassen. Die politischen Veranderungen im Lande
hatten namlich das nachteilige Ergebnis, diese Grenzscheidung zu
verwischen. So sind beispielsweise zahlreiche staatliche Archivalien
nach Bibliotheken abgewandert. Einzelne Teile, Bande, Hefte und
Nummern einer und derselben archivalischen Reihe sind gegenwartig
in verschiedenen Archiven, Bibliotheken und Museën verstreut. Diese
Frage hat der Direktor des Warschauer Hauptarchivs Siemiénski in
einem auf dem polnische Historikertage von 1925 gehaltenen Vortrag
eingehend erörtert. Er übernahm hierbei das Schlagwort „Zusammen-
legung (scalanie) in den Titel seines Vortrages aus dem agrarpoli-
tischen Wortschatz. Wie man den bauerlichen Streubesitz durch die
Zusammenlegung von Grundstücken beseitigt, so müsse man auch
verstreute Archivalien nach Massgabe des Provenienzprinzips zusam-
menlegen. Die Zerstreuung von Archivalien kommt ebenfalls in anderen
Landem vor, jedoch sind in Polen diese Falie infolge der durch
politische Verhaltnisse hervorgerufenen Verwirrung verhaltnismassig
zahlreicher und sind auf ganz besondere Beweggründe zurückzuführen.
Viele polnischen Archivalien wurden bereits vor geraumer Zeit, mitunter
vor hundert und mehr Jahren, von Privatpersonen kauflich erworben
und sind darauf von wissenschaftlich interessierten Kaufern an gut
verwaltete Privatbibliotheken, die einige sicherheit boten, meistens
geschenkweise abgegeben worden. Nicht minder haufig kauften Privat
bibliotheken Archivalien unmittelbar von zufalligen Besitzern mit
grosserem Geldaufwand. Der Zweck war hierbei lediglich der, wert-