226 zeichnen bemerke ich, dass vordem in Russland jede Behörde und jedes Amt über ein besonderes Archiv fur sich verfiigte. Man berechnete damals, dass die Zahl der staatlichen Archive des Zaren- reiches sich auf über 30,000 belief. In den russischen Verordnungs- blattern aus der Zarenzeit fand ich zahllose Ernennungsdekrete für Archivkommissionen, die in erster und letzter Instanz über die Kas- sation der behördlichen Kanzleiarchive entschieden. Die Sowietre- gierung liess jedoch unter Berücksichtigung der Fortschritte der Archivwissenschaft einen vollstandigen Wandel hierin eintreten. In Polen wurden die Beziehungen der wissenschaftlichen Archivver- waltung zu den Behördenregistraturen erheblich gefördert, indem die polnische Archivverwaltung eine Verordnung von 28. Oktober 1920 bei dem Ministerrat durchsetzte, durch welche jede Kassation von Akten der Behörderegistraturen von der Zustimmung der „Abteilung für Staatsarchive" abhangig gemacht wurde. In der Einsicht, dass ein geordneter Aktenlauf bei den Kanzleien überhaupt die Vorbedingung ist für eine angemessenene Aufstellung der spater an die Staats archive abzuliefernden Akten, widmete die Archivverwaltung der Frage der Einrichtung der Registraturen unausgesetzt ihre volle Aufmerksamkeit. Alle diese Bemühungen vollziehen sich im Bereich der Richtlinien des Dekrets von 1919. 3. Staat und Archivwesen. Ein erfahrener Fachmann des Auslandes tat gelegentlich die beachtenswerte Ausserung, dass das jahrhundertelange staatslose Dasein der polnischen Volksgemeinschaft eine nachteilige Wirkung auf den Stand der archivkundlichen Kennt- nisse im Lande ausgeübt haben muss, und zwar wie er betonte ohne jede Schuld der Polen. Die angeführte Wahrnehmung erscheint objektiv und treffend. Eine richtige Einstellung zu dem organischen Verhaltnis von Staat und Archiv ist sicherlich nur dann möglich, wenn beide Faktoreneigener Staat und eigenes Archivwesen zugleich nebeneinander bestehen. Aus dieser Tatsache erwuchs für die polni schen Fachmanner die besondere Aufgabe, alle durch die Unbill der politischen Umwalzungen hervorgerufenen Lücken in systematischer Facharbeit zu beseitigen. Die polnische Archivpolitik widmet diesem Punkt ihre Beachtung und sie kann hierbei an die Traditionen des alten polnischen Staates anknüpfen. Der oberste Beamte in dem alten Polen, der Kronkanzler, betreute das archivum generale Regni. Er vereinigte in einer Person etwa die Ressorts des Ausseren, der justiz und des Inneren. In den zu verschiedenen Zeiten berufenen Archiv- kommissionen betatigten sich praktisch die ersten Beamten und Senatoren des Reiches. Es sei nur daran erinnert, dass der hochge- bildete Kanzier Jan Zamoyski in seinen jüngeren Jahren im polnischen 227 Reichsarchiv lange Zeit fachmannisch arbeitete und ein mehrbandiges Repertorium des Archivs hinterliess. In den Beschlüssen der parlamen- tarischen Körperschaften, des Reichstages und der Provinziallandtage sind zahllose Geldanweisungen der Stande verzeichnet, urn die Kosten von Ordnungsarbeiten in den Archiven und verbesserter oder neuer baulicher Einrichtungen zu bestreitea. Dieses rege Interesse für Archivangelegenheiten in Polen ist ebenfalls dem franzosischen Spezialforscher Louis Jacob bei seinen Studiën entgegengetreten, der hierzu bemerkt: „La nation polonaise était la plus soucieuse de conserver ses documents publics" (La clause de livraison des archives pub/iques. 1915. S. 50). 4. Archive und Bibliotheken. Eine normale Fortentwi- ckelung der Archive ist nur dann gesichert, wenn sie sich keine Ubergriffe in andere Verwaltungen erlauben und Eingriffe anderer Verwaltungen vom eigenen Bereiche fernhalten. Mit Rücksicht auf die historisch überkommenen Zustande in Polen handelt es sich insbesondere darum, eine sachliche Trennung zwischen den Bestanden und Funk- tionen der Archive auf der einen und der Bibliotheken auf der anderen seite eintreten zu lassen. Die politischen Veranderungen im Lande hatten namlich das nachteilige Ergebnis, diese Grenzscheidung zu verwischen. So sind beispielsweise zahlreiche staatliche Archivalien nach Bibliotheken abgewandert. Einzelne Teile, Bande, Hefte und Nummern einer und derselben archivalischen Reihe sind gegenwartig in verschiedenen Archiven, Bibliotheken und Museën verstreut. Diese Frage hat der Direktor des Warschauer Hauptarchivs Siemiénski in einem auf dem polnische Historikertage von 1925 gehaltenen Vortrag eingehend erörtert. Er übernahm hierbei das Schlagwort „Zusammen- legung (scalanie) in den Titel seines Vortrages aus dem agrarpoli- tischen Wortschatz. Wie man den bauerlichen Streubesitz durch die Zusammenlegung von Grundstücken beseitigt, so müsse man auch verstreute Archivalien nach Massgabe des Provenienzprinzips zusam- menlegen. Die Zerstreuung von Archivalien kommt ebenfalls in anderen Landem vor, jedoch sind in Polen diese Falie infolge der durch politische Verhaltnisse hervorgerufenen Verwirrung verhaltnismassig zahlreicher und sind auf ganz besondere Beweggründe zurückzuführen. Viele polnischen Archivalien wurden bereits vor geraumer Zeit, mitunter vor hundert und mehr Jahren, von Privatpersonen kauflich erworben und sind darauf von wissenschaftlich interessierten Kaufern an gut verwaltete Privatbibliotheken, die einige sicherheit boten, meistens geschenkweise abgegeben worden. Nicht minder haufig kauften Privat bibliotheken Archivalien unmittelbar von zufalligen Besitzern mit grosserem Geldaufwand. Der Zweck war hierbei lediglich der, wert-

Periodiekviewer Koninklijke Vereniging van Archivarissen

Nederlandsch Archievenblad | 1933 | | pagina 22