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„Prasidium des Ministerrats leitete, in Betracht kommen, aber keiner
von den Fachministem. Ein Fachmimster als Chef der interministeriellen
Archivverwaltung konnte doch leicht in die heikle Lage geraten,
seinen Ministerkollegen auf Grund des Archivdekrets in archivalischen
Dingen Weisungen zu geben. Er wiirde dann Gefahr laufen, bei
seinem gleichgestellten Kollegen anzustossen und seinen Willen nicht
durchsetzen zu können. Der Drang nach Unabhangigkeit ist jedem
Ressort angeboren. Es erscheint demnach psychologisch verstandlich,
wenn ein grosses Staatsressort sich via facti iiber die zu Recht
bestehenden Vorschriften hinwegsetzt und nach eigenem Ermessen
handelt. Der Rang, den die kleine Archivverwaltung innerhalb der
Gemeinschaft der grossen Staatsorgane einnimmt, kann ein solches
Vorgehen nur begunstigen.
Die Entwickelung des Archivwesens in Landern von alter staats-
politischer Kultur weist abschreckende Beispiele auf, wie die Zuweisung
des Archivwesens an einen Fachminister mit der Zeit zur Vernichtung
der gesunden Idee einer einheitlichen und die Staatsfinanzen verhalt-
nissmassig weniger belastenden Organisation geführt haf.
Das polnische Archivdekret gliedert die Archivverwaltung einem
Fachminister, nümlich dem Minister fiir Kultus und öffentlichen Unter-
richt an. Ungerecht ware es jedoch, diese Anordnung den verdienst-
lichen Verfassern des Dekrets Schuld zu geben. Der Vorgang erklart
sich einfach daraus, dass in den Anfangstadien des staatlichen Auf-
baues das Unterrichtsministerium gerade das bei weitem am besten
ausgebildete Ressort war. Einzig aus diesem Grunde erschien dieses
Mimsterium den Verfassern des Dekrets geeignet zu sein, die Archiv
verwaltung in sich aufzunehmen. Aber sowohl die an der Redaktion
des Archivdekrets beteiligten Beamten, wie auch die sonstigen Fach-
manner und auch das weiter unten behandelte Kollegium des „Archi-
vrats waren immer der Ansicht, dass die Archivverwaltung dem
alle bachministerien vereinigenden Prasidium des Ministerrats anzu-
gliedern sei. An nachhaltigen Bemiihungen mangelte es in dieser
Beziehung nicht und wird auch in der Zukunft noch weniger mangein,
um endlich das erstrebte Ziel zu erreichen und den Staatsarchiven
eine stete und gedeihliche Entwickelung zu sichern. In diesem Zu-
sammenhange sei noch folgendes erwdhnt. Im Anfange des Aufbaues
des polnischen Staates bildete das früher preussische Gebiet provi
sorisch ein besonderes Verwaltungsgebiet fiir sich. Die Gesamtver-
waltung dieses Gebiets vereinigte in seiner Person der „Minister des
früheren preussischen Anteils Die dortigen Einzelressorts wurden
von Unterstaatssekretaren und Direktoren geleitet. In der von mir
1919 verfassten und von dem Minister des früheren preussischen
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Anteils am 2, Februari 1920 bestatigten Verordnung wurde die
Archivverwaltung, entsprechend den modernen Anforderungen, nicht
einem der Einzelressorts, sondern dem Chef der Gesammtverwaltung
des Gebiets, dem Minister zugewiesen. Bei der Vereinigung des
Gebiets mit dem Staatsganzen am 1. januari 1922 wurde das dortige
Archivwesen der Warschauer Abteilung für Staatsarchive und somit
dem Chef des Unterrichtsressorts unterstellt.
Durch das Archivdekret wurde ein besonderes Organs der „Ar-
chivrat eingesetzt. Diese beratende Körperschaft besteht laut Gesetz
aus zwölf durch den Minister für einen Zeitraum von fünf Jahren
ernannten Mitgliedern, aus samtlichen Direktoren der Staatsarchive
und aus Vertretern aller zentralen Oberbehörden. Diese Einrichtung
ist nach österreichischem Vorbilde getroffen worden. Den Archivrat
in Wien hatte man seinerzeit errichtet, um wenigstens auf diese
Weise ein einheitliches, das Archivwesen des Kaiserstaates umfas-
sendes Organ zu besitzen. Der Wiener Vorgang verdankte also
seinen Entstehen der Tendenz nach einer zukünftigen Vereinheit-
lichung der staatlichen Archivverwaltung. Ausserdem lag den Urhebern
die Absicht nahe, die berechtigten Bestrebungen der Archive durch
Einflussnahme bei hohen Staatsbehörden und parlamentarischen Kör-
perschaften zu fordern. Bei dem italienischen Archivrat kommt gerade
der letztere Zweck deutlich zum Ausdruck. Gehören ihm doch die
glanzendsten Namen der historischen Wissenschaft, aber keine Ar-
chivare an. Der polnische Archivrat war ein geeignetes Organ, um
die Interressen der Archive wahrzunehmen und durch seine hohe
Autoritat Schaden von der Archivverwaltung fern zu halten. Er hatte
in dieser Beziehung sein Bestes beigetragen. Die vom Warschauer
Archivrat auf periodischen Tagungen gefassten Beschlüsse erhielten
ausnahmslos die Bestatigung des Ministers und erlangten hierdurch
rechtsverbindliche Kraft.
2. Staatsarchive und B e h r d e n r e g i s t ra t u r e n. Die
polnische Archivverwaltung steht, in Einklang mit dem Archivdekret,
auf dem Standpunkt einer klaren Scheidung zwischen Archiven und
Registraturen. Alle Staatsarchive sind nach dem Dekret der „Ab
teilung für Staatsarchive" unmittelbar unterstellt. Als Registraturen
dagegen gelten diejenigen Aktenbestande, die bei den einzelnen
Staatsbehörden erwachsen sind und im Zusammenhange mit den
Bedürfnissen der laufenden Verwaltung bei ihnen noch aufbewahrt
werden. Diese Auffassung vertreten auch die Beschlüsse des Ar-
chivrats.
Das Dekret steht im direkten Gegensatz zu den im zarischen
Russland üblichen Einrichtungen. Um diesen Gegensatz zu kenn-