Zur ErschlieBung audiovisuellen Archivgutes* Peter Bucher l DaB audiovisuelle Medien, speziell Film-, Bild- und Tontrager, originares Ar- chivgut auch ïm Sinne klassicher Definition darstellen, ist allgemein bekannt und bedarf namentlich in archivarischen Fachkreisen keiner weiteren Erörte- rung mehr.1 Ebenso selbstverstandlich und unbestritten ist, da/3 die Ge- schichtswissenschaft als wichtige, wenn nicht gar die wichtigste NutznieBerin als wichtige, wenn nicht gar die wichtigste NutznieBerin archivarischen Bemiihens2 den audiovisuellen Medien den Rang von Quellen zuerkannt hat, die nach den herkömmlichen historisch-kritischen Methoden zu bewerten sei- en und sich infolgedessen von Urkunden, Akten und anderen schriftlichen Quellen wohl durch ihre auBere Form, nicht aber durch ihren inneren Gehalt, durch ihre Erkenntnisfahigkeit und ihren Quellenwert unterschieden.3 Inso- fern hat die Archivwissenschaft durchaus folgerichtig gehandelt, als sie schriftliche Archivalien und nichtschriftliche Archivalien gleichsetzte, wenn man von auBeren Bedingungen der Aufbewahrung, der konservatorischen Pflege u.a. absieht.4 Was die ErschleiBung, also die Ordnung und Verzeich- nung von Archivalien betrifft, so übertrug sie demgemaB die vornehmlich auf historischen Fragestellungen beruhenden Richtlinien fiir die ErschlieBung schriftlicher Archivalien mehr oder weniger stillschweigend auf die Er schlieBung von nichtschriftlichen Archivalien.5 Deze Auffassung ist aus fol- genden Griinden diskussionswtirdig. Schriftliche Dokumente und nichtschriftliche Dokumente beruhen auf un- terschiedlichen Voraussetzungen. Schriftliche Dokumente bedürfen gewisser intellektueller Fahigkeiten des Konsumenten, wenn sie ihren Sinn erfüllen sol len. Anders ausgedrtickt: man muB Geschriebenes und Gedrucktes lesen kön- nen, und man muB das Gelesene auch verstehen können. Nichtschriftliche Dokumente, auch der Ton, wenden sich vornehmlich an das Unterbewufltsein des Menschen, worunter solche Vorgange zu verstehen sind, deren Funktio- nieren dem Menschen nicht bewuBt wird. Durch die unbewuBte Wahrneh- mung wird die Aussage eines optischen oder akustischen Mediums im Be- trachter bzw. Zuhörer gespeichert, ohne daB dieser auf die Tatsache der Spei- cherung iiberhaubt, auf die Dauer der Speicherung usw. irgendeinen EinfluB ausüben kann, und selbst bei scheinbar bewuBter Wahrnehmung wird eine Bild- oder Tonaussage vielfach immer noch unbewuBt erfolgen, weil es oft- 48 mals gar nicht möglich ist, eine filmische, bildhafte oder akustische Aussage auf ihre eigentliche Intention hin zu analysieren.6 Fiir die ErschlieBung audio- visueller Archivalien bedeutet dieser Tatbestand, daB im Unterbewufltsein Wahrgenommenes umgesetzt werden muB in mit der Ratio zu Erfassendes. Wenn es dabei urn den gesprochenen Ton geht, bereitet eine solche Transfor mation keine Schwierigkeit, denn dann braucht man nur den gehörten Text mitzuschreiben, und verfügt über ein schriftliches Dokument. Bei Bildern und Filmen entstehen erheblich mehr Probleme, wenngleich es wenigstens theore tisch vorstellbar ist, daB die Diskrepanz zwichen unbewuBt Wahrgenomme- nem einerseits und mit der Ratio und den Intellekt ErfaBtem anderseits doch überwunden werden kann. So belanglos diese verschiedenartigen Voraussetzungen, auf denen schriftli che und nichtschriftliche Dokumente beruhen, für ihre ErschlieBung auch im mer erscheinen mogen, so resultieren aus ihnen aber unterschiedliche Entste- hungsursachen, die sich auf die ErschlieBung entscheidend auswirken. Im weitesten Sinne trachten schriftliche Dokumente danach, das Mittei- lungsbedürfnis des Menschen zufrieden zu stellen. Johannes Papritz hat hier- bei unterschieden zwischen Schreiben zur Mitteilung an einen Entfernten, Niederschriften zur Gedüchtnisstütze, Schriftlichkeit zur Wirtschaftsfiihrung und schlieBlich Schriftlichkeit zur Organisation des Geschaftsganges.7 Nach den Erkenntnissen der modernen Archivwissenschaft erfolgt die ErschlieBung von schriftlichen Dokumenten ausnahmslos nach MaBgabe der speziellen Kompetenzen, die das Schriftgut hat entstehen lassen, wobei es gleichgültig ist, ob es sich um staatliche oder um nichtstaatliche Provenienzen handelt. Der besondere Entstehungszweck, der das Schriftstiick hervorgerufen hat, ist allein für die Ordnung und Verzeichnung maBgeblich, er weist dem Schriftstück innerhalb der speziellen Kompetenz einer Provenienzstelle einen festen Platz an und macht es dadurch auffindbar und benutzbar.8 Nichtschriftliche Dokumente, und zwar sowohl Bild und Film wie auch der Ton, haben einen anderen Entstehungszweck: Sie verdanken ihre Entstehung der jahrhunderte-alten Sehnsucht des Menschen, die Wirklichkeit möglichst naturgetreu abzubilden.9 Zwar werden auch Bild, Film und Ton gelegentlich als Informationsvermittler eingesetzt, doch handelt es sich dabei erstens um eine verhaltnismaBig spate Entwicklung, zum zweiten aber spielt die Weiter- gabe von Informationen, die ja hauptsachlich den Entstehungszweck schriftli cher Dokumente ausmacht, im Ganzen gesehen nur eine untergeordnete Rol- le. Vorrangig geht es dem Filmschaffenden, dem Tonschaffenden, dem Foto- graphen darum, die Wirklichkeit widerzuspiegeln, und erst sekundar strebt er danach, seine in Film, Bild oder Ton festgehaltenen Vorstellungen von der Wirklichkeit an Dritte zu vermitteln. Insofern lassen sich die Kriterien, die die Entstehungszwecke für schriftli che Dokumente ausmachen, nicht auf die ErschlieBung übertragen. Nun könnte man, ebenso wie es Johannes Papritz für Akten formuliert hat, Krite rien aufstellen, die den besonderen Entstehungsursachen der audiovisuellen Dokumente gerecht würden, um auf diesem Wege den Zugang zu diesen Ar chivalien zu gewahrleisten. Solche Kriterien waren etwa Unterhaltung, Beleh- rung, Unterrichtung oder Werbung, wie sie beispielsweize für den Film von Walter Hagemann vorgeschlagen wurden10 und die sich auch auf die Bereiche 49

Periodiekviewer Koninklijke Vereniging van Archivarissen

Nederlandsch Archievenblad | 1984 | | pagina 25