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Ausnutzung seiner technischen Vorteile, die das Papier der Schriftgut-
organisation hatte bieten können. Nach wie vor werden nach dem Vorbild des
Pergaments je nach Bedarf grosse oder kleine Stücke abgeschnitten. Die so
entstehenden Schriftstücke sind ebenso wenig bequem wie die aus Pergament
und lassen sich nur schlecht in Kastlein, Laden, Fachern, Sack.en und Auf-
schniirungen organisieren.
In einer Hinsicht ist das Papier von Anfang an dem Pergament überlegen:
es eignet sich hervorragend zur Herstellung von Amtsbiichern, da es ja in
genormter Grosse und gleich in Lagen geliefert wurde.
Zwei bürotechnische Erfindungen waren nötig, die Möglich-
keiten des Papiers voll zur Auswirkung zu bringen. Die erste bestand in der
Normungs) der Schriftstücke mit der bewussten Absicht, sie dadurch technisch
besser miteinander vereinigen zu können. Weder ist der Erfinder dieser Idee
bekannt, noch vermogen wir zu erkennen, wie diese Normung allgemein in den
Kanzleien propagiert und durchgesetzt werden konnte. Sie lag nahe: man
brauchte sich nur des Folioformates zu bedienen, in dem das Papier auf den
Markt kam. Es bedurfte ausserdem noch einer Regelung der Beschrifttungs-
weise, denn bisher war man gewöhnt die Papierbogen, wenn man sie schon
nicht zerschnitt, beliebig, etwa über die ganze Flache, zu beschreiben. Seit dem
ersten Drittel des 16. Jahrhunderts wurden die Bogen einmal gefaket, wie die,
die man in ein Amtsbuch einheftete, und die so entstehenden Seiten amts-
buchmassig, d.h. parallel zur Schmalseite, beschrieben.
Eine zweite bürotechnische Erfindung war nicht weniger zukunftstrachtig.
Bisher hatte man, wenn man an der fortdauernden Kenntnis einer eigenen Aus-
fertigung interessiert war, eine Abschrift davon als „Exemplum" nehmen
müssen, die mangels anderer Organisationsmöglichkeit in der Regel ins Amts
buch eingetragen wurde. Schon Mitte des 12. Jahrhunderts verstehen die
Notare, ihre Konzepte in ihren Amtsbüchern so einzurichten, dass sie nicht nur
als Entwurf dienten, sondern zugleich als Exemplum gebraucht werden
konnten. Erst zwei Jahrhunderte spater hat man dieselbe Methode auch auf
Konzepte angewendet, die nicht als Eintrage in Amtsbücher eingetragen wur
den, sondern selbstandige Schriftstücke bildeten. Am Ausgang des Mittelalters
war es dann soweit, dass diese Schriftstücke in Format und Beschriftungs-
weise parallel und passend zu den Ausfertigungen genormt wurden. Jetzt end-
lich konnte man die eingegangenen Schriftstücke mit den Konzepten der aus-
gegangenen technisch bequem vereinen.
Wie wirkten sich Papier und die eben genannten bürotechnischen Erfindun
gen auf die alte Amtsbuchregistratur aus? Die Zahl der Amtsbücher vermehrt
sich schnell. Und neben ihnen bildet sich ein Ansatz von Schriftstücken, die
man jetzt wegen ihrer Normung leicht organisieren kann, gern in Streckmap-
pen, die eine Buchform vortauschen. Es sind die Schriftstücke, die bei Amts-
stelle produziert wurden, um Amtshandlungen zu erwirken, oder die Unterlagen
oder Entwürfe dazu bieten. Neben den Amtsbüchern entstehen also parallele
Serien von Schriftstücken, die ich nach alter Kanzleibezeichnung „Produkte"
nennen will.
In grosseren Provenienzstellen kann es Schwierigkeiten geben, wenn mehrere
Sachbearbeiter zugleich die Amtsbücher einsehen wollen, um die sie interes-
8) Normalisatie van formaten.
sierenden darin weit verstreuten Eintrage aufzusuchen. Man fertigt deshalb Ab-
schriften aus den Amtsbüchern an und legt sie zu den Produkten (diese werden
„bilateral erganzt": bisher waren sie unilateral, sie steilten nur die Eingange
dar; jetzt kommen Abschriften der andern Seite, der Eintrage, hinzu)
Soweit die Bucheintrage konzipiert werden müssen, richtet man in einer
weiteren Etappe der Entwicklung die Konzepte als Schriftstücke ein und
erspart sich, wenn man sie zu den Produkten legt, die Abschriften zwecks
bilateraler Erganzung. Jetzt sind Produkte und Konzepte eigenstandig und
eigentlich von den Amtsbüchern unabhangig, sie werden auch bald in ihrer
Ordnung abweichend behandelt, indem man sie nicht immer mehr chronologisch
parallel zu den Amtsbüchern herlaufen lasst, sondern wohl auch nach Korres-
pondenzprinzip oder systematisch nach Betref fprinzip vermöge eines Akten-
plans organisiert.
Die Amtsbuchorganisation ist angesichts dieser Entwicklung zum Absterben
verurteilt. Auf zwei Wegen vollzieht sich der Prozess.
Der erste lasst die Eintrage der Amtsbücher verkümmern man hat ja die
dazugehörigen bilateralen Akten -, die Texte werden verkürzt, die Amtsbücher
werden zu Geschaftstagebiichern einer Aktenregistratur.
Der andere Weg fiihrt zur technischen Auflösung der Amtsbücher, d.h. man
macht sich nicht mehr die Miihe, vorhergebundene Bücher zu beschriften,
wobei Korrekturen immer Schwierigkeiten zur Folge hatten, sondern schreibt
einfach Schriftstück für Schriftstück für sich getrennt und bindet sie nachher
wie ein Amtsbuch zusammen, aber nicht mehr lagengerecht. Die Amtsbücher
haben sich in buchmassig gebundene Aktenschriftstücke aufgelöst. Bald nimmt
man auch vom Bucheinband Abstand, die einzelnen Schriftstücke werden lose
bewahrt: es sind nun richtige Serienakten. Die Traditionshemmung bewirkt
oft, dass eine Vereinigung mit den Produkten nicht zustandeKommt. Es ent
stehen zwei unilaterale Serien, Produkte und ehemaliger Amtsbuchinhalt, die
-sehr unpraktisch neben einander herlaufen. Das ist eine Form, die in
Westeuropa bis in unsere Tage hinein fortlebt.
Sehr wichtig ist eine Erscheinung, die sich in den Produkten der Amtsbuch-
registraturen erstmals zeigt, dann aber besonders stark in den bilateralen Serien-
aktenregistraturen zu beobachten ist. Es sind die von mir so benannten
Sachaktenansatze0). Es war für den Registrator einer Serienaktenregistratur
jedesmal eine schwere Miihe, zur Erledigung einer bestimmten Sache die
darüber etwa vorher gewechselten Schriftstücke aus der langen Serie heraus-
zusuchen. Es musste ihm unpraktisch erscheinen, diese glücklich nach Betreff-
prinzip vereinten Schriftstücke wieder zurückzulegen und nach den Daten in
die Serienakten zu verteilen, denn es konnte wenige Tage spater die Notwen-
digkeit entstehen, die Schriftstücke erneut zusammenzusuchen. So entstehen
bald nicht wenige Sachakten oder doch Sachaktenansatze (denn es werden
nicht alle zur Einzelsache gehörigen Schriftstücke, sondern nur die nötigsten
ausgehoben) neben der Serienaktenregistratur. In Oberösterreich hat man im
16. Jahrh. solche „Selekte", um sie noch überschauen zu können, in einer be
sonderen Liste verzeichnet. Aus dieser Wurzel erwuchs das moderne zwiege-
teilte oesterreichische Registraturwesen, das einerseits die chronologischen
9) ïch~finde als hollandische Bezeichnung dafür: „Verzamelingen van stukken,
zaaksgewijze bijeen gehouden". Aus den Sachaktenansatzen entstand m konsequen-
ter Durchführung das danische „Rentekammersystem".