7 6 Ausnutzung seiner technischen Vorteile, die das Papier der Schriftgut- organisation hatte bieten können. Nach wie vor werden nach dem Vorbild des Pergaments je nach Bedarf grosse oder kleine Stücke abgeschnitten. Die so entstehenden Schriftstücke sind ebenso wenig bequem wie die aus Pergament und lassen sich nur schlecht in Kastlein, Laden, Fachern, Sack.en und Auf- schniirungen organisieren. In einer Hinsicht ist das Papier von Anfang an dem Pergament überlegen: es eignet sich hervorragend zur Herstellung von Amtsbiichern, da es ja in genormter Grosse und gleich in Lagen geliefert wurde. Zwei bürotechnische Erfindungen waren nötig, die Möglich- keiten des Papiers voll zur Auswirkung zu bringen. Die erste bestand in der Normungs) der Schriftstücke mit der bewussten Absicht, sie dadurch technisch besser miteinander vereinigen zu können. Weder ist der Erfinder dieser Idee bekannt, noch vermogen wir zu erkennen, wie diese Normung allgemein in den Kanzleien propagiert und durchgesetzt werden konnte. Sie lag nahe: man brauchte sich nur des Folioformates zu bedienen, in dem das Papier auf den Markt kam. Es bedurfte ausserdem noch einer Regelung der Beschrifttungs- weise, denn bisher war man gewöhnt die Papierbogen, wenn man sie schon nicht zerschnitt, beliebig, etwa über die ganze Flache, zu beschreiben. Seit dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts wurden die Bogen einmal gefaket, wie die, die man in ein Amtsbuch einheftete, und die so entstehenden Seiten amts- buchmassig, d.h. parallel zur Schmalseite, beschrieben. Eine zweite bürotechnische Erfindung war nicht weniger zukunftstrachtig. Bisher hatte man, wenn man an der fortdauernden Kenntnis einer eigenen Aus- fertigung interessiert war, eine Abschrift davon als „Exemplum" nehmen müssen, die mangels anderer Organisationsmöglichkeit in der Regel ins Amts buch eingetragen wurde. Schon Mitte des 12. Jahrhunderts verstehen die Notare, ihre Konzepte in ihren Amtsbüchern so einzurichten, dass sie nicht nur als Entwurf dienten, sondern zugleich als Exemplum gebraucht werden konnten. Erst zwei Jahrhunderte spater hat man dieselbe Methode auch auf Konzepte angewendet, die nicht als Eintrage in Amtsbücher eingetragen wur den, sondern selbstandige Schriftstücke bildeten. Am Ausgang des Mittelalters war es dann soweit, dass diese Schriftstücke in Format und Beschriftungs- weise parallel und passend zu den Ausfertigungen genormt wurden. Jetzt end- lich konnte man die eingegangenen Schriftstücke mit den Konzepten der aus- gegangenen technisch bequem vereinen. Wie wirkten sich Papier und die eben genannten bürotechnischen Erfindun gen auf die alte Amtsbuchregistratur aus? Die Zahl der Amtsbücher vermehrt sich schnell. Und neben ihnen bildet sich ein Ansatz von Schriftstücken, die man jetzt wegen ihrer Normung leicht organisieren kann, gern in Streckmap- pen, die eine Buchform vortauschen. Es sind die Schriftstücke, die bei Amts- stelle produziert wurden, um Amtshandlungen zu erwirken, oder die Unterlagen oder Entwürfe dazu bieten. Neben den Amtsbüchern entstehen also parallele Serien von Schriftstücken, die ich nach alter Kanzleibezeichnung „Produkte" nennen will. In grosseren Provenienzstellen kann es Schwierigkeiten geben, wenn mehrere Sachbearbeiter zugleich die Amtsbücher einsehen wollen, um die sie interes- 8) Normalisatie van formaten. sierenden darin weit verstreuten Eintrage aufzusuchen. Man fertigt deshalb Ab- schriften aus den Amtsbüchern an und legt sie zu den Produkten (diese werden „bilateral erganzt": bisher waren sie unilateral, sie steilten nur die Eingange dar; jetzt kommen Abschriften der andern Seite, der Eintrage, hinzu) Soweit die Bucheintrage konzipiert werden müssen, richtet man in einer weiteren Etappe der Entwicklung die Konzepte als Schriftstücke ein und erspart sich, wenn man sie zu den Produkten legt, die Abschriften zwecks bilateraler Erganzung. Jetzt sind Produkte und Konzepte eigenstandig und eigentlich von den Amtsbüchern unabhangig, sie werden auch bald in ihrer Ordnung abweichend behandelt, indem man sie nicht immer mehr chronologisch parallel zu den Amtsbüchern herlaufen lasst, sondern wohl auch nach Korres- pondenzprinzip oder systematisch nach Betref fprinzip vermöge eines Akten- plans organisiert. Die Amtsbuchorganisation ist angesichts dieser Entwicklung zum Absterben verurteilt. Auf zwei Wegen vollzieht sich der Prozess. Der erste lasst die Eintrage der Amtsbücher verkümmern man hat ja die dazugehörigen bilateralen Akten -, die Texte werden verkürzt, die Amtsbücher werden zu Geschaftstagebiichern einer Aktenregistratur. Der andere Weg fiihrt zur technischen Auflösung der Amtsbücher, d.h. man macht sich nicht mehr die Miihe, vorhergebundene Bücher zu beschriften, wobei Korrekturen immer Schwierigkeiten zur Folge hatten, sondern schreibt einfach Schriftstück für Schriftstück für sich getrennt und bindet sie nachher wie ein Amtsbuch zusammen, aber nicht mehr lagengerecht. Die Amtsbücher haben sich in buchmassig gebundene Aktenschriftstücke aufgelöst. Bald nimmt man auch vom Bucheinband Abstand, die einzelnen Schriftstücke werden lose bewahrt: es sind nun richtige Serienakten. Die Traditionshemmung bewirkt oft, dass eine Vereinigung mit den Produkten nicht zustandeKommt. Es ent stehen zwei unilaterale Serien, Produkte und ehemaliger Amtsbuchinhalt, die -sehr unpraktisch neben einander herlaufen. Das ist eine Form, die in Westeuropa bis in unsere Tage hinein fortlebt. Sehr wichtig ist eine Erscheinung, die sich in den Produkten der Amtsbuch- registraturen erstmals zeigt, dann aber besonders stark in den bilateralen Serien- aktenregistraturen zu beobachten ist. Es sind die von mir so benannten Sachaktenansatze0). Es war für den Registrator einer Serienaktenregistratur jedesmal eine schwere Miihe, zur Erledigung einer bestimmten Sache die darüber etwa vorher gewechselten Schriftstücke aus der langen Serie heraus- zusuchen. Es musste ihm unpraktisch erscheinen, diese glücklich nach Betreff- prinzip vereinten Schriftstücke wieder zurückzulegen und nach den Daten in die Serienakten zu verteilen, denn es konnte wenige Tage spater die Notwen- digkeit entstehen, die Schriftstücke erneut zusammenzusuchen. So entstehen bald nicht wenige Sachakten oder doch Sachaktenansatze (denn es werden nicht alle zur Einzelsache gehörigen Schriftstücke, sondern nur die nötigsten ausgehoben) neben der Serienaktenregistratur. In Oberösterreich hat man im 16. Jahrh. solche „Selekte", um sie noch überschauen zu können, in einer be sonderen Liste verzeichnet. Aus dieser Wurzel erwuchs das moderne zwiege- teilte oesterreichische Registraturwesen, das einerseits die chronologischen 9) ïch~finde als hollandische Bezeichnung dafür: „Verzamelingen van stukken, zaaksgewijze bijeen gehouden". Aus den Sachaktenansatzen entstand m konsequen- ter Durchführung das danische „Rentekammersystem".

Periodiekviewer Koninklijke Vereniging van Archivarissen

Nederlandsch Archievenblad | 1957 | | pagina 8