DIE GESCHICHTE DER
SCHRIFTGUTORGANISA TIOnIn DEN KANZLEIEN
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Gestatten Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, das ich Ihnen dafür
danke, dass Sie es mir ermöglicht haben vor diesem gelehrten Gremium zu
sprechen. Zuerst einmal fiir die dadurch zum Ausdruck gebrachte Bekundung
europaischer Gesinnung; eine Bekundung, die besonderes Gewicht erhalt vor
dem dunklen historischen Hintergrund der vergangenen Jahre. Insbesondere die
Archivschule Marburg hat fiir diese europaische Gesinnung zu danken, hat sie
doch die hohe Ehre, in Ihnen, Herr Prasident Dr. Graswinckel, einen ihrer
Mitbegriinder zu sehen, und ebenso wie Sie, Herr Generalarchivar Dr. Harden-
berg, als ihren Gastdozenten bezeichnen zu dürfen.
In gleicher Weise empfinde ich die Ehre, die es fiir einen Archivar bedeutet,
in dem Lande zu Archivfachleuten zu sprechen, das jenes beriihmte Buch von
Muller, Feith und Fruin hervorgebracht hat, das in der Welt und besonders
in Deutschland geradezu als Archivbibel verehrt wird. Wir sind besser be-
lehrt über das „internationale Format" der hollandischen archivarischen Fach-
gelehrten, als es einst nach der interessanten Darstellung des Herrn Gras
winckel Herr Metternich in Wien war. So bin ich recht in Sorge, ob ich
so hohen Anspriichen gerecht zu werden vermag.
Meine Sorge verstarkt sich unter dem Eindruck des vorangegangenen
reizvollen Bcrichtes über Florenz. Dagegen habe ich Ihnen leider nur sehr
trockene Kost zu bieten. Denn obendrein muss ich Sie scnon jetzt darauf vor-
bereiten, dass es ein sehr langer Vortrag werden wird, dazu noch in
fremder Sprache, mit einer komplizierten Terminologie. Ich habe mir die grösste
Miihe gegeben, den Stoff zu komprimieren, so sind fast nur noch die Knochen
übrig geblieben, die ich Ihnen vorsetze: eine schwergeniessbare Kost.
Die Organisationsformen der Schriftgutbewahrung in Kanzlei, Registratur
und Archiv zu untersuchen, mlisste eine wissenschaftliche Aufgabe der Archi-
vare sein, auch wenn kein anderer Nutzen als der einer historischen Erkennt-
nis dabei zu gewinnen ware.
Ich glaube aber, dass ein sehr praktisches Motiv uns geradezu nötigt, diese
Forschungen zu betreiben. Ich glaube namlich, dass man einen Schriftgutkörper
nur dann richtig im Archiv behandeln kann, wenn man seine Struktur, seine
Organe und Funktionen genau kennt. Die Kenntnis der unterschiedlichen
Strukturformen ist also wichtigste Voraussetzung jeder archivischen Ordnungs-
arbeit.
Die in Landshut 1879 versammelten deutschen Archivare erklarten als fun-
damentale Erkenntnis:
„Es gibt kein allgemein giiltiges Ordnungssystem, da jedes Archiv nur nach
genauer Kenntnis von seinem Bestande und seiner Entstehung bearbeitet
werden kann
Es gibt keine allgemein gültige Ordnungslehre! Und doch legten 1898 Muller,
Feith und Fruin ein Werk vor, das diesen Anspruch erhebt. Es wurde zur
Archivbibel: ihm vor allem ist es zu verdanken, dass das Provenienzprinzip in
der Welt sich durchzusetzen vermochte.
Im übrigen aber wird die Archivbibel in Deutschland nicht viel gelesen und
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nur schlecht verstanden. Sie setzt einen Strukturtyp voraus, der in Deutsch
land relativ selten und den deutschen Archivaren meist ganz fremd ist. So
wurden ihre Lehren nicht einmal dann verwertet, wenn ein solcher Struktur
typ vorlag.
Die Fülle der Organisationsformen des Schriftgutes, die die deutschen Ar
chivare in Landshut verwirrt und zur Kapitulation gezwungen hat, vermochte
bisher von einer wissenschaftlichen Erforschung abzuschrecken. Bei naherer
Betrachtung aber ist das Bild doch wesentlich einfacher, und es lassen sich
m.E. feste Regeln für die Ordnungstechnik entwickeln, für jeden Strukturtypus
verschieden, seinen Formen und Funktionen entsprechend. Eine künftige Ord
nungslehre muss von den verschiedenen Strukturtypen ausgehen und für jeden
Typus eine besondere Anweisung ausarbeiten. Soviel Strukturtypen soviel
Ordnungsanweisungen.
Die Organisation des Schriftgutes der Kanzleien war seit je abhangig vom
Stande der bürotechnischen Erfindungen. Nacheinander
haben ihr Wachstafeln und Papyrus, Pergament und Papier ihre besondere
Pragung gegeben.
Ein zweites, den Erfindungen entgegenwirkendes Moment hat nicht minder
Einfluss auf die Schriftgutorganisation gewonnen: es ist die Hemmung
durch die Tradition. Seit dem ersten Jahrhundert wusste man, wie
ausgezeichnet sich Pergament zur Herstellung von Codices, d.h. Büchern und
Heften, eignete. Aber es wird noch lange gerollt, weil das Vorbild des Papyrus
nachwirkt. Das Papier wurde in annahernd genormtem Format geliefert, aber
die Normung wurde anfangs nicht ausgenutzt; man schnitt, wie man es beim
Pergament gewohnt war, nach Bedarf grosse oder kleine Stücke ab. Ja auch
Papier wurde in die Rollenform gezwungen, und die Wachstafel lebt in der
Finanzverwaltung weit ins Mittelalter hinein fort.
Das Widerspiel von Erfindungen und der Hemmung durch die Tradition
bestimmt bis in unsere Tage das Bild der Organisation in den Kanzleien.
Wenn wir uns von dem heutigen Stande der Schriftgutorganisation in der
Welt ein zutreffendes Bild machen wollen, müssen wir unsere Blicke bis ins
Mittelalter zurücklenken. Ich hoffe, Sie werden mir nach Abschluss des Vor-
trages beipflichten, dass sich anders der sonderbare Zustand unserer Tage, das
Nebeneinander so stark abweichender Formen, nicht begreiflich machen lasst.
Was ich Ihnen unterbreite, ist eine überaus knappe Zusammenfassung des
Ergebnisses ausgedehnter Studiën. Ich hoffe, dass es auch in der Kurzfassung
verstandlic.h ist und dass die notwendigen Vereinfachungen in ertraglichen
Grenzen bleiben.
Zum besseren Verstandnis möchte ich einige Worte über die Organisa-
tionsprinzipien vorausschicken, die dem Kanzleiverwalter zu Gebote
stehen.
Da ist erstens das chronologische Prinzip, dem zufolge die einzelnen Schrift-
stücke (oder Amtsbucheintragein zeitlicher Folge aufgereiht werden. Es
entstehen Serien.
Das zweite Prinzip ist das Korrespondenzprinzip. Alle Schriftstücke, die
von einem Korrespondenzpartner einlaufen (oder die Konzepte der an ihn
gerichteten Schreiben) werden für sich vereint. Es entstehen „Korrespondenz-
akten" bezw. Amtsbücher nach Korrespondenzprinzip. Fallt für einen einzelnen
Partner zu wenig an, so vereint man wohl die Schriftwechsel mit mehreren