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Das Deutsche Reichsarchiv.
Von Dr. R. P. Oszwald,
Archivrat und Mitglied des Reichsarchivs.
Das deutsche Reichsarchiv ist, so merkwürdig dies auch klingen
mag, eine Folge des Zusammenbruches des Deutschen Reiches nach
dem Weltkriege. Die einzelnen Bundesstaaten oder Lander, wie sie
heute staatsrechtlich heiszen, Preuszen, Bayern, Sachsen usw. haben
seit altersher ihre staatlichen Archive. Für das Reich fehlte ein solches
bis zum |ahre 1919. Die verschiedenen Reichsbehörden hatten jede
für sich ihre besonderen Behördenarchive, ohne dasz es jedoch irgend-
welche einheitlichen, fiir alle Reichsbehörden gültigen Bestimmungen
über die Behandlung und Aufbewahrung von Reichsarchivalien gab.
Der Gedanke eines Reichsarchivs ist allerdings schon alt. Er
wurde zweimal von parlamentarischer Seite aus zur Erörterung ge-
stelt: am 19. Mai 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung und
1867/68 im Norddeutschen Bunde, beide Male jedoch ohne Erfolg.
Von der Reichsregierung selbst wurde damals der Uedanke nicht
weiter verfolgt, da die anfanglich geringe Ausdehnung der Reichsamter
die Gründung eines für alle gemeinsamen Archivs nicht als notwendig
erscheinen liesz. Erst viel spater, als die Akten in den einzelnen
Aemtern zu groszen Massen angewachsen waren und ihre Unter-
bringung Schwierigkeiten machte, wurde das Bedürfnis nach einem
gemeinsamen Archiv fühlbar. Die erste Anregung ging 1905 von dem
damaligen Staatssekretar des Inneren Graf Posadowskv aus; es kam
allerdings erst in den Jahren 1911—13 zu ernsteren Verhandlungen.
Aber es war nur der auszere Zwang, die angewachsenen Mengen
unterzubringen, der den Gedanken eines Reichsarchivs wieder erstehen
liesz, nicht das innere Bedürfnis, in einem gemeinsamen Archiv aller
Reichsbehörden eine organische Einheit für die Reichsgeschafte zu
schaffen. Infolgedessen wurde ein Weg beschritten, der nicht zum
Ziele führte. Da es sich nur um die auszere Aufbewahrung handelte,
wollte das Reich an preuszische Einrichtungen anknüpfen; die Akten
des Reiches sollten mit denen Preuszens in einem gemeinsamen Ge-
baude zusammen untergebracht werden, zwar raumlich und verwaltungs-
maszig von einander getrennt, aber doch unter einer gemeinsamen
Leitung, aus Sparsamkeitsgründen auch unter teilweiser Mitbenutzung
des preuszischen Beamtenkörpers. Dieser Plan erregte naturgemasz
den Widerstand in einzelnen Bundesstaaten. Der Reichstag fühlte
deutlicher als die Reichsregierung die Notwendigkeit, dasz das Reich
ein von den Bundesstaaten ganzlich unabhangiges Archiv haben müsse,
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und lehnte im jahre 1914 die Bewilligung der Summe für ein gemein-
sames Archivgebaude für das Reich und Preuszen ab. Zu einem
Antrage, ein eigenes Archiv für das Reich zu errichten, kam es jedoch
nicht; das innere Bedürfnis dazu wurde auch im Reichstage nicht
gefühlt. So blieb das Deutsche Reich ohne Archiv und auch ohne
jegliche Verfijgung über die Behandlung seiner Archivalien.
Da trat nach dem Weltkriege plötziich mit zwingender Notwen
digkeit die Frage an die Reichsbehörden heran, was mit den gewal-
tigen Aktenmassen der aufgelösten militarischen Behörden und For-
mationen geschehen solle. Neben die rein archivalische Frage trat
sofort die verwaltungstechnische, wie diese Aktenmassen, die nicht
vernichtet werden durften, sondern für die Auskunftserteilung bei den
Reparationsverhandlungen und Schadensersatzansprüchen unerlaszlich
waren, für die Benutzung durch die Reichsverwaltung dienstbar ge-
macht werden konnten. Dazu kam ein Drittes. Nach dem unglückiich
verlaufenen Kriege mit seinen erschrecklichen Folgen fühlte man das
Bedürfnis besonders dringend, sofort an die Beschreibung des Krieges
heranzutreten. Da es sich bei allen drei Anfgaben so gut wie aus-
schlieszlich um militarische Akten handelte, wurde der Oberquartier-
meister der Kriegsgeschichte, Oberst Ritter Mertz von Quirnheim,
spater als Generalmajor verabschiedet und heute President des Reichs
archivs, mit der Durchführung der vorbereitenden Masznahmen betraut.
Diese Vorverhandlungen führten im Sommer 1919 zu dem Antrage,
den im Jahre 1914 gescheiterten Plan eines Reichsarchivs wieder
aufzunehmen. In zwei groszen Denkschriften vom 12. Juli und 3.
September 1919 wurde der Plan auseinandergesetzt. Neben dem Chef
des Generalstabes General Von Seeckt, dem Reichswehrminister Noske,
den beiden Reichsinnenministern Dr. David und Dr. Koch förderten
dann vor allem Staatssekretar Dr. Lewald und Ministerialrat Dr. Asmis,
jetzt Gesandter in Bangkok, die Sache. Die Gesetzgebenden Körper-
schaften gaben im Oktober 1919 ihre Zustimmung zur Errichtung
eines Reichsarchivs
Folgende drei Aufgaben wurden dem neuen Institute gestellt:
1. Sammlung, Verwahrung und Verwaltung des gesamten Ur-
kunden-und Aktenmaterials des Reiches seit seiner Gründung 2), soweit
es nicht mehr für die laufende Verwaltung unmittelbar gebraucht wird.
2. Die unparteiische und wissenschaftliche Erforschung der hinter
J) Naheres über die Vorgeschichte des Reichsarchivs und seine Entstehung sowie
über seine Organisation siehe in dem Aufsatz von Dr. ERNST MüSEBECK, Direktor im
Reichsarchiv: „Der systematische Aufbau des Reichsarchivs" (Preuszische lahrbücher
1923, Bd. 191, Seite 294 ff).
2) d. h, seit 1867, der Begründung des Norddeutschen Bundes.